Die Zukunft aus der Kaffeetasse lesen

Das Kaffeetrinken als Zwischenmahlzeit am Nachmittag ist für Bulgaren in ihrem Tagesablauf keine feste Mahlzeit und daher nicht üblich. Man trinkt tagsüber zwar Kaffee, sogar viel Kaffee, aber nicht unbedingt mit einem Stück Kuchen. Nur die Damen der alten Schule treffen sich zum Klatsch und Tratsch beim Kaffeetrinken und versuchen die Zukunft ihrer Familien aus der Kaffeetasse zu lesen. Das Kaffeesatzlesen war in der DDR kaum bekannt und als purer Aberglaube belächelt. Diese jahrhundertealte europäische Tradition, gepflegt in der bulgarischen „High Society“ bis 1945, stirbt mit dem „Kaffeekränzchen“ und mit den Damenrunden allmählich aus. Kaffeetrinken im deutschen Sinne gibt es in Bulgarien nach wie vor nicht, aber es wird neu bedacht und als fast sinnvoll empfunden. Heute ist das Angebot an Torten und Kuchen mehr als Antwort auf touristisches Bedürfnis, als Modernisierung der vorhandenen Sitten zu verstehen. Nur die Kinder im Kindergarten, wie überall auf dieser Welt, essen nach dem Mittagsschlaf eine Kleinigkeit und trinken Saft oder Tee dazu.

Der Bulgare hat sich selten bemüht die Gewohnheiten, besonders die Essgewohnheiten, des Ostgastes zu berücksichtigen und wenn, zuerst die zahlungskräftigen Urlauber wurden umsorgt und mit Service überschüttet. Das der Gastgeber dem Wohl des Gastes zu dienen hat, ist ein schlichter und einfacher Gedanke. Tatsächlich gelten bis heute die unfreundlichen Kellner als Markenzeichen und leider als Relikte des Sozialismus. Genauso, die Bereitschaft des Fremden die einheimischen Gegebenheiten zu erkunden und zu verstehen. Aufsteller mit Aufschriften „Füttern wie bei Müttern“ und „Hier ist nur deutsche Küche zu bestellen“ sind im Goldstrand und Sonnenstrand nicht selten sichtbar. Man hat sich öfters bemüht die goldene Mitte zu finden, leider nicht immer erfolgreich oder manchmal eben nicht nachhaltig genug.

Einmal war es Familie S. gelungen, eine Ferienwohnung (durch Privatbeziehungen) oberhalb von Varna zu mieten. Sie gehörte einem Freund, der in Westdeutschland wohnte, hatte einen wunderschönen umlaufenden Balkon und war sehr geschmacksvoll eingerichtet. Frau S. fand die Einrichtung nicht praktisch genug. Seit Anfang an hasste sie die Küche. Zu wenige Töpfe und Kuchenbleche in der von ihr vorgestellten Größe und Ausführung, die Ablage- und Arbeitsflächen waren nicht ausreichend und die Möbeln äußerst unbequem. Die atemberaubende Aussicht auf das Schwarze Meer konnte ihre Abneigung überhaupt nicht ändern. Die fehlende praktische Relevanz kam richtig zum Vorschein wann Frau S. für die Familie einen Kuchen backen wollte. In der Bäckerei gab es kein einziges Stück Kuchen zu kaufen! Die Bäckereien konnte man überhaupt nicht als Bäckerei bezeichnen. Frau S. wusste nicht, dass Pfannkuchen, Eclair und ähnliche Leckereien in der Konditorei zu finden waren. Es ist halt so, wenn man den Reiseführer zuhause vergessen hat und den Nachbarn nicht fragen konnte oder wollte. Das Hauptproblem dabei: Bulgare und Deutsche beurteilen die meisten alltäglichen Dinge auf Grundlage vollkommen unterschiedlicher Kriterien – bulgarische Gelassenheit vs. pragmatische Gewohnheiten. Um der Wahrheit willen: Der Kuchen ist nicht geworden. Aber immerhin war Frau S. sehr positiv von der Nachbarin überrascht. Sie war Deutschlehrerin und hat die Kuchenproblematik geklärt und die Bedienung des Herdes erklärt. Damit war der Urlaub bzw. Herr S. gerettet. Die Familie S. verbringt immer noch mindestens eine Woche im Jahr in Varna, in der gleichen Wohnung mit der tollen Aussicht. Mit der Nachbarfamilie sind sie schon längst befreundet. Es ist eine wunderbare Freundschaft, und das macht es, trotz persönlicher extrem verschiedenen Kuchen-, Küchen- und Weltsichten.

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