… andere Probleme

Wie man aus der erlebten Geschichte entnehmen kann, die Begriffe Integration, Globalisierung und Toleranz hatten in der DDR ganz andere, überwiegend positive Bedeutung, als gegenwärtig, nämlich kollektives Zusammenleben und gegenseitige Hilfsbereitschaft. Nach der Wende hatte ich mit einer großen Vielfalt an Beschimpfungen als „dreckige Türkin“, obwohl ich immer ordentlich angezogen war, als „Zigeunerin“, für die die netten, hilfsbereiten Jungs mit Glatzen ein Rettungsboot schleunigst besorgen würden und … und vieles mehr, zu kämpfen. Wie damals, im Jahr 1998.

Es war einen lauwarmen Juni-Abend als ich nach dem Spätdienst nach Hause ging. Eine Gruppe Jugendlichen, in Reih und Glied laufend, kamen entgegen und unglücklicherweise mein ausländisches Aussehen sofort wahrgenommen. Blitzschnell ging das Geschreie los mit bekannten Parolen. Besonders erfinderisch waren auf jeden Fall die Jungs nicht. Alle Schmähungen konnte ich akustisch nicht verstehen, aber ebenso wenig wollte ich es auch. Mit jedem Schritt schien mir die Situation immer ernster geworden zu sein und ich habe mich unverzüglich nach Fluchtmöglichkeiten umgeschaut. Es gab keine. Na dann, weiter laufen und den jungen Menschen nicht beachten. Sie wollen nur provozieren und werden so eine gestandene alte Dame nie angreifen wollen. Dachte ich. Je näher sie kamen, desto weniger fruchtete meine innerliche Überzeugungsarbeit. Die Angst wuchs in Sekundentakt. Die Tatsache, dass ich von Natur aus Angsthase bin und in dem Moment mein Herz mit Puls über 200 direkt in der Hose gelandet war, braucht überhaupt nicht erwähnt werden. Man sollte mit allem rechnen. Auch mit einer wundersamen Kehrwende. Sie kam tatsächlich in der letzten Sekunde.

Plötzlich war eine bekannte gewaltige Stimme zu hören, die in der aus meiner Sicht aussichtslosen Situation die unerwartete Wende gebracht hatte.

„Ruhe, halt Maul! Das ist meine Praktikumsbetreuerin! Sie ist keine Türkin. Sie ist Bulgarin!“ Das Mädel, dem ich meine Rettung zu verdanken hatte, war viel größer als ich, kräftig gebaut, von einfachem Menschenschlag und anscheinend zufrieden mit meiner Betreuung. Sonst hätte sie sich nicht so energisch in dem Straßengeschehen eingemischt. Dann herrschte für ein paar Sekunden eine mit Spannung geladene Stille. Ich wusste es nicht so genau, war die Welt wieder in Ordnung oder meine bulgarische Herkunft wird von dem Publikum einer türkischen weiter gleichgestellt? Fundierte Geschichtskenntnisse waren nicht zu erwarten um die zwei gemeinsamen Niederlagen nach den beiden Kriegen als Pluspunkt zu bewerten und erwähnen.

Doch als „Fremde“ im Ost-Lande wurde ich auf einmal wieder geduldet sogar gewünscht und begrüßt. Noch mehr: Einige Jungs haben mit mir gesprochen! Am nächsten Tag sprach mich meine Praktikantin halb erklärend, halb entschuldigend an: „Ansonsten  können wir keine „Ausländer“ bei uns richtig gebrauchen.“ Sie zeigte mir friedliche Fotos von ihrem Freund mit Hund, von ihrer Familie und dem Bauernhof. Alles beschaulich, gemütlich und sogar ein bisschen kitschig. Woher kam auf einmal in der toleranten Republik die Ausländerfeindlichkeit? War sie immer im Hintergrund präsent? Erklärungen gibt es viele, richtige, meiner Meinung nach, wohl kaum. Meine Fräulein B. hat das Praktikum abgebrochen, nicht wegen mir, sondern sie wurde im Vorstand der „Bewegung“ gewählt und deshalb mit Freund und Hund in Westen umgezogen. Mein Versprechen über die „Bewegung“ zu schreiben habe ich immer noch nicht gehalten. Aber ein dickes Dankeschön und die beste Erinnerung an ihr.

ohne ernsthaften Folgen…

Eines Abends kam ein Orchestermusiker förmlich schwebend in die Theaterkantine. Was war mit ihm los? Alle verwendeten einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit in der alten, verrauchten, schmutzigen aber dennoch gemütlichen Kantine darauf, den Kollegen möglichst lange von den Dienstproblemen abzuhalten und der Grund für seine ungewöhnliche Erscheinung schnell zu erkunden. Hier war locker eine tolle Geschichte rauszuholen. Dachte ich und fing sofort an zu „bohren“. „Na, ja …“ begann er, „ich bin, nach dem Konzert … in die falsche Kneipe gegangen. Woher sollte ich es wissen, dass in der kleinen urigen Gaststätte einen Nazi-Stammtisch war?“ Sie waren unglücklicherweise auch da, sagte er in einem Ton, als handle es sich nicht um einen gewöhnlichen Stammtisch, sondern um einen Verschwörer Kartell, oder gar um einen außerirdischen Crew, der bei voller Fahrt Weltallwerbung aus der Tür wirft.

„Und das war ein Problem?“ „Na, allerdings!“ Wir wussten zwar, wie das nichtdeutsche Aussehen von dieser Klientel angenommen wird, aber das Ausmaß des Ablehnens wurde offenbar doch unterschätzt. Unser Mr. BG sah typisch balkanmäßig, heute wird als südländisch bezeichnet, aus. „Und?“ „Was und? Ich versuchte das Problem irgendwie zu ignorieren und habe ganz locker die Bedienung gefragt was die Speisekarte anzubieten hat.“ Da die Sprachkenntnisse und die Sturheit des Misters BG bekannt waren, wussten wir, dass er wirklich sein Bestes würde gegeben haben müssen um die ganze Aufmerksamkeit des Stammtisches auf sich zu lenken. Vor allem hofften wir, dass er darauf verzichten würde jede Entscheidung, Offensive oder Defensive, im Voraus anzukündigen und dass er beim Bestellen nicht mit dem Kellner diskutierte, es müsse doch günstiger sein, weil um diese Zeit fast niemand essen gehe. Wäre unser Held also nicht so erfinderisch, tapfer und schnell mit seinem Mundwerk, auch mit geringeren Sprachkenntnissen, dann hätte er sich niemals so erfolgreich durchsetzen können wie der Ausgang der Geschichte eindeutig belegt. Aber der Reihe nach.

Die Darstellung ging weiter in einer Positionierung, die unverzüglich auch Napoleon vor Moskau neidisch gemacht hätte. „Die Attacke ist die beste Verteidigung, oder etwa nicht?“ So hat er freundlich gegrüßt und gefragt: „Hallo, Freunde! Seid ihr in der richtigen Partei? Ja, ich sehe schon. Die meisten Freunde wissen gar nicht, dass die Partei in Bulgarien eine Erfolgsgeschichte ist. Nirgends sonst hat sich der Kampf landesweit so durgesetzt als bei uns. Aber wir haben es schwer. Deshalb bin ich hier.“

Unfassbar! Die Leute in der Kneipe haben seine Geschichte für bare Münze genommen. Er hat sich selbst, in größter Not, als bulgarischer Nazi und ehemaliger Burschenschafter? verkauft. Warum, wieso, weshalb hat er sich genau als „Burschenschafter“ ausgegeben, warte noch heute auf Antwort. Das Wort „Burschenschafter“ platzte wie eine Bombe in der Kantine, war in aller anwesenden Munde, die lange offen blieben.

Es ging weiter: „In wenigen Minuten saß ich mit am Stammtisch. Schließlich war ich  Parteifreund aus dem Ausland.“ Seine deutschen Kneipenbekanntschaften haben ihm nicht nur einmal Bier gespendet und der Stammtisch hat sich auf internationaler Ebene lange ausgetauscht.

Der Begriff „Burschenschaft“ hat damals mein Interesse sofort geweckt, um dieser speziell deutschen Studentenbewegung kennenzulernen. Ich ahnte ja nicht, wie merkwürdig, lustig, aber auch anstrengend, die Auswertung des Begriffs und der Kneipenerlebnissen mit Nazibeteiligung sein würde. Die Erläuterung des Geschehens und der Tatsache, dass Mr. BG „Burschenschafter“ erfolgreich im richtigen Sinne verwendet haben soll (es hat letztendlich positiv gefruchtet) hat mir einen sehr langen Forschungseinblick in diversen Nachschlagewerken und Wörterbüchern gekostet.

Als Dozentin und externe Doktorandin an der altehrwürdigen Jenaer Universität war ich an alles – Traditionen, Geschichte, Studentenbräuche, Professorenschaft, Kneipen etc. interessiert. Meine Vorliebe für  das „ins-Fettnäpfchen-treten“, für Lapsus und Malheur  jeder Art  in klassischer Form kam natürlich ständig dabei zum Einsatz. Es wurden nicht nur Fragen gestellt, die für den Betroffenen nicht gerade angenehm waren, sondern hundertjährige Traditionen und festgelegte Gegebenheiten versehentlich missachtet. Woher sollte ich es wissen, dass der beste Tisch am Fenster in der traditionsreichen Gaststätte „Zur Rose“, der auch mir sehr gut gefallen hatte,  immer für das Rektorat vorgesehen und reserviert war? Gott sei Dank, hatte ich sehr netten Kollegen, die mich aus jeder misslichen Lage taktvoll gerettet haben. So war es auch mit dem Begriff „Burschenschaft“. Es hat mich irgendwie fasziniert, weil die Bedeutung für mich, rein kulturgeschichtlich und philologisch betrachtet, mit dem Universitätsleben und Alltag zu tun haben sollte. Trotzdem blieben viele Fragen ohne Antwort in der Luft hängen oder einfach nicht beachtet:

„Ach was! Wie sind Sie auf die Urburschenschaft gekommen? Es stimmt: Jena, später Wartburg, sind die Gründungsorte, genau gesagt in Jena-Wenigenjena das Gasthaus „Grüne Tanne“, ein verfallenes Gasthaus. Nach dem Verbot 1945 gibt es die alten Burschenschaften nicht mehr. Sie sind kein Thema in der DDR. Schön, dass Sie sich mit der Universitätsgeschichte beschäftigt haben.“

In dem Moment wusste ich: Die Antwort dieser anscheinend unbeliebten Frage wird mich im Selbststudium weiter beschäftigen. Meine Wenigkeit wurde aber um eine Erfahrung reicher: ich sollte alles nehmen und abheften, was ich kriegen könnte. So war es auch.

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